Oh du Fröhliche!

Ich sitze im Zug und blicke aus dem Fenster. Verhuscht zieht die Stadt an mir vorbei. Der Tag ist trüb, so dass es bereits am Nachmittag wirkt, als stände die Nacht in den Startlöchern. Um mich herum herrscht Stimmengewirr. Hier raschelt es in einer Tüte. Dort wird telefoniert. Weiter hintern streitet sich ein altes Ehepaar über den Ablauf der nächsten Tage und neben mir kuschelt ein junges Pärchen in meinem Alter. Ihr kleiner Hosenscheißer singt lautstark und emsig ein Weihnachtslied nach dem anderen. Versucht es zumindest, denn noch ist der kleine Fratz nicht wirklich Herr der deutschen Sprache. Vielmehr singt er in seiner eigenen Sprache und erheitert das ganze Zugabteil. Zumindest noch!

Und wie ich da so sitze und aus dem Fenster blicke, springt mal wieder mein Gedankenkarussell an und rattert vor sich hin. Der Blick verklärt sich. Das Stimmengewirr tritt in den Hintergrund und unermüdlich klopfen irgendwelche Erinnerungen und Sehnsüchte an meine Schädeldecke, drängeln und provozieren ein explosives Feuerwerk. „Hej, etwas Zurückhaltung bitte, bis Silvester sind es noch ein paar Tage!“ Doch sie geben keine Ruhe, springen beharrlich auf und ab, fordern den Rückblick auf Zeiten in denen ich selbst noch ein Dreikäsehoch war. Und dann passiert es: miss sophie wird sentimental & wehmütig…

Als ich wieder erwache aus meiner kleinen Retrospektive sehe ich, wie der Hosenscheißer beherzt in die Lebkuchentüte greift, die Mama ihm unter die Nase hält, weil der schmetternde Gesang nun doch ein paar Nörgler aufs Spielfeld befördert hat. Das Tirilieren setzt augenblicklich aus, die Augen des kleinen Fratzes beginnen zu leuchten und die kleinen Pausbacken mahlen freudig drauf los. Das Weihnachtsdrama – ein Streit unter Reisenden – wurde in letzter Sekunde erfolgreich abgewendet. Beruhigt tauche ich wieder in meine Gedankenwelt ab.

Ja, das Jahresende ist doch immer eine ganz besondere Zeit… Während es für Viele eine Zeit ist, in der sie das Jahr noch einmal Revue passieren lassen, auswerten was gut und was schlecht war,  Pläne schmieden was im nächsten Jahr alles anders werden soll und eine Liste von Vorhaben erstellen, die sie dann – je nach Typ – gleich am ersten Tag des neuen Jahres wieder über Board werfen oder verbissen daran arbeiten, beobachte ich in dieser Zeit immer viel und stelle mir vor, wie die einzelnen Personen, die ich da beobachte wohl die letzten Tage des Jahres verbringen. Und das kann eben sehr unterschiedlich sein. Von ’beneidenswert’, über ’zum brüllen komisch’, bis hin zu ’verschone mich’…

Hach ja….gemütlich und friedlich beisammen glucken. Wer das tut, hat das Prinzip der Weihnachtszeit verstanden: Nämlich das harmonische Zusammensein mit seinen Lieben. Gut, in manchen Familien artet die eigentlich besinnliche Weihnachtszeit oft auch in eine Zeit der ’sportlichen’ Höchstleistungen aus. Es folgt und kreuzt nämlich ein Marathon den Nächsten. Der Essmarathon. Der wir-hasten-von-einem-Familienmitglied-zum-nächsten-Marathon. Der wir-rupfen-den-Geschenkeberg-auf-Marathon. Oder aber auch der wir-lassen-die-Festzen-fliegen-Marathon und holen mal alles auf den Tisch, was sich das ganze Jahr über so angestaut hat. Ja, die Gunst der Stunde, da man mal wieder alle an einen Tisch bekommen hat, wird nicht zuletzt oft genutzt um endlich mal wieder einen kräftigen Streit vom Zaun zu brechen.

Noch mitten in Gedanken, drängt plötzlich bitterliches, sirenenartiges Schluchzen an mein Ohr. Der Hosenscheißer hat das Lebkuchenessen beendet, um stattdessen beherzt mit seinen Schokoladenfingern nach Mamas Seidenbluse zu greifen. DIE Seidenbluse, die sie eigentlich furchtbar hässlich findet, die doch aber ein Geschenk der lieben Schwiegereltern war, was sie heute extra vorführen wollte. Und während Mama noch nicht weiß ob sie lachen oder weinen soll, hat sich der Hosenscheißer eben für lautstarkes Heulen entschieden. Zum einen, da Mama und Papa im Eifer des Gefechts wohl ein sehr betroffenes Gesicht gemacht haben. Zum anderen, weil sich die lieben Mitreisenden mal wieder einmischen… Und während die eine Hälfte meines Hirns das Gedankenreich nur sehr langsam verlässt, ist der andere Teil meines Geistes sofort hellwach in der Realität zurück und kommentierte lustig drauf los: „Oh du Fröhliche!“

Alle Jahre wieder…

Wie sagt man so schön: „Es kommt immer anders als man denkt“. Aber es dauert doppelt so lange und zwischenzeitlich will man sich drei Mal aus dem Fenster stürzen ;) Naja… das ist natürlich etwas übertrieben, aber ich will ja gebührend und nach alter Manier ins neue Jahr starten.

Eigentlich hatte mir vorgenommen mich nicht unter all diejenigen einzureihen, die einen Abschiedtext ans alte und einen Willkommensgruß ans neue Jahr schreiben. Aber nun ja… Es kommt eben anders. Nicht nur als man denkt, sondern auch oft als mal möchte…  Und so finde ich nun meine zarten Finger auf der Tastatur wieder, wie sie flink darüber hüpfen und die Gedanken aus meinem Kopf kraftvoll in die Tasten schlagen. Denn mein Jahresumschwung war alles andere als ich erwartet habe, auch wenn ich eigentlich nichts erwartet habe…

Und so schleicht das neue Jahr nur langsam um die Ecke. Zumindest habe ich den Eindruck. Während sich kurz vor dem Jahreswechsel geradezu alle an den Supermarktkassen stapelten, fand ich heute gähnend leere Gänge vor. Während sich zwischen den Feiertagen alle in der Schwimmhalle die überschüssigen Weihnachtspfunde mühsam wegtrainierten, herrschte heute auch dort erstaunlich wenig Wellengang.

Ob sie noch alle auskoman von ihrer berauschenden Silvesterparty? Wobei wir beim Thema wären. Wie startet man richtig ins neue Jahr? Gibt es ein ’Richtig’ überhaupt? Bisher war ich es gewohnt, dass in meinem Freundes- und Bekanntenkreis bereits Wochen vor dem ’großen Tag’ geschäftiges Treiben ausbrach. Man plante. Die Location, die Gäste, die Musik, das Buffet, etc. Es wurde Alkohol in Massen angekarrt um auch ja sicherzustellen, dass Jeder und immer ein volles Glas hatte. Ja, dies scheint für viele eine Garant, dass die Party auch wirklich ein Erfolg wird. Denn durch den Schleier des Alkohols wirkt auch der größte Partyreinfall gleich weniger schlimm. So meinen wohl viele. Ich für meinen Teil habe gelernt: Es kommt immer anders ;) Und gerade deshalb habe ich davon Abstand genommen zu viel vom Jahresumschwung zu erwarten. Denn dies ist wiederum ein Garant dafür, dass es in die Hose geht. Und das scheint wohl dieses Jahr der Gro in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gewesen zu sein. Es gab keinen Plan, es gab keine Vorfreude, es gab nix. Irgendwie lief alles anders…

Der Tag war bereits einige Stunden alt, als sich dann doch noch entschied wer mit wem, ab wann und wo das neue Jahr begehen wollte. Und in eben selber Manier endete das alte und begann das neue Jahr: ruhig und unaufgeregt. Als gäbe es gar keinen besonderen Anlass für das Beisammensein. Lediglich das Überangebot an Essen & Alkohol auf dem Tisch und das Wummern & Knallen vor dem Fenster ließen erahnen, dass es sich doch um ein etwas ereignisreicheres Datum handelte. Und dennoch. So richtig wollte sich deshalb kein Gefühl von Neuanfang einstellen. Aber ich schien nicht die Einzige zu sein… Erstaunlich wenig Feuerwerk, erstaunlich wenig Menschen auf der Straße, erstaundlich wenig Gespräche über gute Vorsätze, Pläne & Vorhaben, erstaunlich wenig Neujahrswünsche… Ob keiner feiern wollte, weil alle aufgrund des kurz zuvor angedrohten und geradeso überlebten Weltuntergangs ohnehin bereits mit ihrem Leben abgeschlossen hatten? Oder wo trieben die sich alle herum?

Zumindest fuhr ich mit dem Rad in den frühen Morgenstunden durch eine fast menschenleere Stadt. Wenn die Menschen nicht hier waren, musste es irgenwo anders dafür umso mehr geben, oder? Auch der laue Wind ließ eher auf einen der ersten Frühlingstage schließen, als auf den Beginn des Jahres. Lediglich ein paar Glasscherben und Kotzhaufen auf der Straße zeugten davon, dass sich hier vor ein paar Stunden alkoholisierte Menschen aufgehalten haben müssen. Und so begann ich mein neues Jahr nicht mit den üblichen Wünschen sondern einzig und allein mit dem Wunsch: Bitte kein Platten, bitte kein Platten! Als ich vor meine Haustür ankam frohlockte ich: Yeah, kein Platten, kein Platten. Doch ich hatte mich zu früh gefreut, denn um es noch einmal zu erwähnen: Es kommt immer anders :P

Als ich am nächsten Tag erwachte war die Welt um mich herum noch immer ruhig. Und ich fragte mich einmal mehr, was das wohl zu bedeuten hatte? War sie doch noch untergegangen, die Welt, und ich hatte es verpasst? Ich beschloss eine Runde auf meinem Rad zu drehen und das Ganze mal aus der Nähe zu betrachten. Doch Überraschung: Mein Rad hatte einen Platten.

Tja… Das fing ja gut an. Konnte also nur besser werden. Und so dachte ich mir einmal mehr: Lass ab von all den Wünschen und Plänen für das kommende Jahr, denn es kommt ohnehin anders als du denkst. Lass dich stattdessen überraschen. Denn hey, wir schreiben das Jahr 2013. Wenn das kein gutes Omen ist. Also ab geht er, der Peter… Äh nein. Ab geht sie, die miss sophie…